http://www.fr-online.de/in_und_ausland/p...?em_cnt=2062082
Vergesst den Osten nicht
Die EU muss allen Ländern Europas eine Zukunft bieten. Sie darf Russland nicht ausgrenzen. Vor 20 Jahren endete der Kalte Krieg. Jetzt besteht die Gefahr, dass neue Mauern errichtet werden.
Das Jahr 1989 war ein Wendepunkt für Europa und die Welt; ein neues Kapitel der Geschichte wurde aufgeschlagen, als die Berliner Mauer fiel und in Mittel- und Osteuropa die eisernen Vorhänge vom Volk sanft, aber bestimmt zurückgezogen wurden. Totalitäre Regime nahmen ihren Abschied von der historischen Weltbühne.
Möglich waren diese sehr friedlich verlaufenen Umwälzungen durch Veränderungen, die Mitte der 1980er Jahre in der Sowjetunion vorgenommen worden waren, weil es nicht mehr anders ging. Wir reagierten auf den Willen des Volkes, das sich weigerte, weiterhin in Unfreiheit und isoliert vom Rest der Welt zu leben.
Innerhalb weniger Jahre - historisch gesehen eine sehr kurze Zeitspanne - war das totalitäre System der Sowjetunion demontiert, waren die Bedingungen geschaffen für demokratische und ökonomische Reformen. Da wir das in unserem eigenen Land getan hatten, wollten wir es auch unseren Nachbarn nicht vorenthalten.
Wir drängten niemandem diese Reformen auf. Als die Perestroika ihren Ausgang nahm, sagte ich den Führern der Warschauer-Pakt-Länder, dass in der Sowjetunion einschneidende Veränderungen vorgenommen werden würden, dass aber jedes Land selbst entscheiden müsse, inwieweit es sich anschließen wolle. Ihr seid selbst für Eure Bürger verantwortlich, sagte ich ihnen, wir werden uns nicht einmischen. Im Grunde war diese Aussage eine Nichtanerkennung der sogenannten Breschnew-Doktrin und stützte sich auf das Prinzip der "eingeschränkten Souveränität". Man reagierte zunächst mit Skepsis und nahm meine Versicherung als reine Formalität, wie sie von dem neuen Generalsekretär der Kommunistischen Partei nicht anders zu erwarten war. Aber wir hielten uns daran, und deswegen gingen die Umwälzungen in Europa in den Jahren 1989 und 1990 friedlich und ohne Blutvergießen vonstatten. Wobei die größte Herausforderung die Wiedervereinigung Deutschlands war.
Noch im Sommer 1989, während meines Besuchs in der DDR, wurden ich und Kanzler Helmut Kohl von Journalisten gefragt, ob wir die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung besprochen hätten. Ich antwortete, dass dieses Problem Teil unseres historischen Erbes sei und dass wir uns damit beschäftigen würden, wenn die Zeit reif sei. "Wann?", fragten die Journalisten. Der Kanzler und ich verwiesen beide auf das 21. Jahrhundert.
Man mag der Ansicht sein, dass es mit unseren prophetischen Fähigkeiten nicht weit her war. Zugegeben: Die deutsche Wiedervereinigung trat viel früher ein und zwar, weil das deutsche Volk sie wollte, nicht weil Gorbatschow oder Kohl dafür waren. In Amerika erinnert man sich gut an Reagans Appell: "Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!" Aber war das wirklich die Aufgabe eines einzelnen Mannes? Und dann gab es schließlich auch noch die Gegenstimmen, die im Grunde riefen: "Bewahren Sie die Mauer!"
Als Millionen Menschen im Osten und im Westen Deutschlands die Wiedervereinigung verlangten, wurden wir uns unserer Verantwortung bewusst und mussten entsprechend handeln. Die Staatsoberhäupter in Europa und den USA stellten sich der Aufgabe und überwanden die unvermeidbaren Zweifel und Ängste. Wir arbeiteten zusammen, und es gelang uns, das gegenseitige Vertrauen zu bewahren und eine Neuordnung der Grenzen zu verhindern. Der Kalte Krieg war endlich vorbei.
Nach der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Kriegs entwickelten sich die Dinge allerdings nicht ganz so wie erhofft. In Deutschland haben 40 Jahre Teilung eine kulturelle und gesellschaftliche Kluft aufgerissen, die sogar noch schwieriger zu schließen sein wird als die wirtschaftliche. Den ehemaligen Ostdeutschen wurde nun klar, dass auch im Westen nicht alles perfekt war, dass beispielsweise das Sozialsystem zu wünschen übrig ließ. Doch trotz aller Probleme haben es die Deutschen geschafft, aus dem neuen, vereinigten Deutschland ein angesehenes, starkes und friedliches Mitglied der internationalen Gemeinschaft zu machen.
Die Staatsführer, denen die Pflege der globalen und insbesondere der europäischen Beziehungen obliegt, haben die Möglichkeiten, die sich vor 20 Jahren auftaten, nicht wirklich genutzt. Deswegen kämpft Europa immer noch mit einem zentralen Problem - dem Aufbau einer soliden Sicherheitsstruktur.
Unmittelbar nach Ende des Kalten Kriegs fingen wir an zu diskutieren, wie wir unseren Kontinent in Zukunft sichern können. Ein Ansatz war die Einrichtung eines europäischen Sicherheitsrats mit weitreichenden Befugnissen. Die Idee wurde in der Sowjetunion, Deutschland und den USA unterstützt.
Zu meinem Bedauern entwickelten sich die Dinge anders, und der Aufstieg eines neuen Europa lässt noch auf sich warten. Die alten Demarkationslinien wurden inzwischen durch neue ersetzt. In Europa gab es wieder Krieg und Blutvergießen. Misstrauen und alte Vorurteile halten sich hartnäckig: Russland werden böse Absichten, wird eine agressive, imperialistische Haltung unterstellt. Ich war entsetzt von einem Brief, den Politiker aus Mittel- und Osteuropa im Juni an Barack Obama schickten, in dem er aufgefordert wurde, seinen politischen Dialog mit Russland abzubrechen. Ich finde es beschämend, dass europäische Politiker keinen Gedanken daran verschwendeten, welche katastrophalen Folgen eine erneute Konfrontation haben würde.
Gleichzeitig steht Europa nun im Mittelpunkt einer Debatte über seine Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Vergleiche werden gezogen zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion. Solche Vergleiche sind historisch falsch und moralisch verwerflich.
Diejenigen, die versuchen, in Europa auf der Basis von gegenseitigem Misstrauen und Anfeindungen eine neue Mauer zu bauen, tun ihren Heimatländern und Europa keinen Gefallen. Europa kann nur dann zu einem starken Global Player werden, wenn es wirklich allen Europäern, im Osten und im Westen, eine gemeinsame Heimat wird. Wie Papst Johannes Paul II. sagte: "Europa muss mit beiden Lungenflügeln atmen."
Wie können wir dieses Ziel erreichen? In den frühen 1990ern beschloss die Europäische Union, ihre Ausweitung schnell voranzutreiben. Es wurde viel erreicht; die Errungenschaften sind nicht zu leugnen. Allerdings war man sich über die Folgen nicht wirklich im Klaren. Der Ansatz, Europa "vom Westen her" aufzubauen und so die Probleme anzugehen, hat sich als unrealistisch und wahrscheinlich nicht durchführbar erwiesen.
Wäre man etwas langsamer vorgegangen, hätte die EU mehr Zeit gehabt, ein neues Modell für die Beziehungen mit Russland und anderen Ländern zu entwickeln, die in nächster Zukunft keine Aussichten auf einen EU-Beitritt haben.
Momentan besteht die Vorgehensweise der EU im Bezug auf andere europäische Länder darin, so viele wie möglich aufzunehmen, Russland aber "bis auf weiteres" außen vor zu lassen. Das ist eine untragbare Situation, was aber einige nicht einsehen wollen. Da fragt man sich, ob es vielleicht Leute gibt, die etwas gegen einen Wiederaufbau von Russland haben. Was für eine Art Land soll Russland denn sein? Eine starke, selbstbewusste und eigenständige Nation oder nur ein Rohstofflieferant, der "seinen Platz kennt"?
Es gibt zu viele europäische Politiker, die nicht daran interessiert sind, mit Russland auf Augenhöhe zu sein. Sie sehen sich als Lehrer und Ankläger und wollen Russland die Rolle des gelehrigen Schülers beziehungsweise reuigen Angeklagten zuweisen. Russland lehnt diese Rollenverteilung ab und will als gleichwertiger Partner verstanden werden.
Um Sicherheit, wirtschaftliche Erholung, Umweltschutz und eine geregelte Migration garantieren zu können, bedarf es einer Umstrukturierung der globalen und vor allem der europäischen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Ich rate allen Europäern dazu, den Vorschlag des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew für ein neues europäisches Sicherheitsabkommen zu beherzigen. Erst wenn dieses Kernproblem gelöst ist, kann Europa mit geeinter Stimme auftreten.
Zum Autor
Michail Gorbatschow, 78, war zwischen 1985 und 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Präsident der Sowjetunion. 1990 erhielt er den Friedensnobelpreis. Er ist Vorsitzender der Gorbatschow-Stiftung zur Unterstützung sozialwirtschaftlicher und politischer Forschung.